Der Shorty 3 – zu Nis-Momme Stockmanns "Kein Schiff wird kommen"
Allegorien aus dem Familienalbum
von Christian Rakow
20. Mai 2010. Szenenidee, im Halbschlaf geschöpft: "Heidegger und Hitler spielen zusammen mit Nietzsche Skat in der Hölle. War das schon mal?" Na, nicht ganz so. Bei Josef Hader in "Privat" gab's das mal ähnlich, mit Stalin und Reinhold Messner (!), der jeden Winkel der Welt erkunden will (und also auch die Hölle). Und Heiner Müller, der konnte diese Biggie-Zockereien natürlich prächtig. Da hätte dann Goebbels aus Riesenbrüsten der infernalen Skatrunde Natursekt eingeschenkt. Oder so ähnlich.
Was war, muss nicht wieder sein. Nicht in den Augen des larmoyanten, aber dramaturgisch versierten Jungautors, den Nis-Momme Stockmann in Kein Schiff wird kommen als Alter Ego zur Erarbeitung eines Wendestückes auf seine Heimatinsel Föhr schickt. Eine gute halbe Stunde präsentiert er uns Etüden aus abgelegten Theaterformen. Und siehe, Müllereskes ist auch dabei: "Ein Chor von zwanzig Engeln auf der Bühne, der einen Chor von 1989 Engeln spielt" und: "Ein Knabe singt 'Wind of Change'. Von hinten kommen Adolf Hitler, Stalin, Marx etc." Willst du mein Herz essen, Hamlet?
Das Gespenst der universalen Marktwirtschaft
Stockmanns Bezug auf die altvordere Ästhetik hat Methode. War es nicht Heiner Müller, der um 1990 schonungslos wie wenige verkündete, die Zeit der Geschichte (identisch mit der Zeit der Tragödie) sei beendet, die Ära der Komödie angebrochen? Stockmann, der vordergründig den Blick ins Familienalbum sucht, zeigt sich hintergründig durchaus diesem Diktum verpflichtet. Wenig erfahren wir über den zentralen Tod der Mutter, und zwangsläufig liest sich ihr Fall allegorisch: Als ehemals geflohene Ost-Berlinerin (!) büßt sie just um die Herbstereignisse 1989 herum ihre Gehirnfunktionen (!) ein, leidet, sieht Gespenster. Es dürfte nicht mehr das Gespenst des Kommunismus sein. Eher das Gespenst der universalen Marktwirtschaft.
Die Mutter stirbt und mit ihr ihre nicht auserzählte Geschichte einer Grenzgängerschaft im geteilten Deutschland. Es ist das Ende des Nachkriegsgedächtnisses. Was den Nachfolgenden bleibt, ist der Zug zum Biedermeier, die Apotheose des Privaten, das Lob der kleinen Dinge. Genau das lässt Stockmann folgen, wenn er das Vater-Sohn-Drama zunehmend auf Linie seines Erstlings "Der Mann der die Welt aß" bringt.
Schwenk ins Reich des "Gewöhnlichen"
Regisseurin Annette Pullen pflegt entlang dieser Textvorgaben die Familienbesinnung, mal heiter, mal mit gedämpfter Stimmung, oft mit atmosphärischer Popmusik à la Placebo. Sie bricht einzelne Monologblöcke im Wechsel zwischen Matthias Kelle (prononciert) und Lisa Wildmann auf, entwickelt unter einem luftigen Zeltdach (em-)pathetische Szenen zwischen Sohn und Vater (bestechend lakonisch dabei: Jens Winterstein, im Karohemd).
Die Akzentuierung der großen Geschichtszeichen betreibt Pullen nicht. Ob diese für Stockmann mehr als einen vagen Echoraum bedeuten, bleibt einstweilen unentscheidbar. Sein Schwenk ins Reich des "Gewöhnlichen" gemahnt an Adalbert Stifter, wenngleich ohne die Stifter'sche Detailversessenheit. Jedenfalls hat sich der Realismus lange nicht so raffiniert, so offensiv und gestenreich seinen angestammten Sujets zugewandt.
Hier lesen Sie die Nachtkritik und Kritikenrundschau zur Uraufführung in Stuttgart. Den Text von Nis-Momme Stockmann hat Andreas Jüttner in seinem Stückporträt näher unter die Lupe genommen. Und hier berichten wir vom Publikumsgespräch.