Der Shorty 6 – zu Dirk Lauckes "Für alle reicht es nicht"
Das Boot ist voll und der Acker brach
von Anne Peter
30. Mai 2010. In Dresden hingen Dirk Lauckes arme Träumer prekär in der Luft. Über der schrägen Sandfläche baumelten Jo und Anna in der Anfangsszene von "Für alle reicht es nicht" auf Schaukeln aus dem Schnürboden. Auf Wolkenkuckucksheimhöhe erzählten sie von ihren Traumverwirklichungsaktionen, die im Wesentlichen darin bestehen, in eher kleinem Maßstab Kippen über die deutsch-tschechische Grenze zu schmuggeln.
Im Mülheimer Theater an der Ruhr ist der Raum nicht hoch genug für derartige Schaukelfreiheit. Jo und Anna hocken hier von Anfang an auf dem Boden der Realität, der auch etwas weniger steil abfällt als in Dresden. Doch auch hier stolpern, rutschen, springen, knien die Figuren im Sand – ein Spielplatz, auf dem vieles möglich scheint und doch alle Pläne im Nichts versanden. Auf dem es bevorzugt bergab geht. Ein ehemaliges Erdbeerfeld, jetzt Brachland, aus dem nie eine Blühende Landschaft wurde. No strawberry fields forever.
Stattdessen: eine Panzerfahrbahn, auf der der Stärkere den Schwächeren frisst, wie Ex-NVAler Heiner seiner Enkeltochter erklärt. Ein Terrain, das nicht für alle reichen soll. Ein Das-Boot-ist-voll-Acker, auf dem das Ressentiment der zu kurz Gekommenen gegen die noch kürzer Gekommenen prächtig gedeiht. Für einen LKW mit Flüchtlingen ist hier erst recht kein Platz. "warum solln die was kriegen, was ich nich gekriegt hab", fragt Anna.
Der Text drängt, von den Erdbeerfeldern über die wiederkehrenden Wölfe, das Ossi-Wessi-Pärchen und den sich im Panzer verschanzenden Dickhäuter bis zu den stumm bleibenden asiatischen Immigranten im Laster-Gefängnis, ins Symbolische und strebt über die Ränder jenes Realismus-Raumes hinaus, in den einen Lauckes den Leuten in aller Schnoddrigkeit vom Munde abgelauschte Sprache hineinsaugt. Erinnerungsszenen sind dem Stück genauso eingeschrieben wie Tagtraum-Sequenzen, in denen Jo die möglichen Ausgänge ihrer verfahrenen Situation imaginiert – aus der er ebenso gut als übler Menschenschmuggel-Gauner wie als Bundesverdienstkreuz-Held hervorgehen könnte.
Konsequenterweise weitet Sandra Strunz ihre Uraufführung, bei realistisch-direkter Spielweise, gen Traumspiel aus, mit Schaukel, Sand, Fellmützen und unterlegt von präzise gesetzten Cello-Live-Loops. Der LKW ist hier bloß eine Luke im Boden, in die bisweilen brutal hinuntergetreten wird. Von Zeit zu Zeit steigt von dort unten ein Klagegesang auf – unerhört. Droben zieht man sich den Wolfspelz über.
Hier lesen Sie die Nachtkritik und Kritikenrundschau zur Uraufführung in Dresden. Den Text von Dirk Laucke hat Wolfgang Behrens in seinem Stückporträt näher unter die Lupe genommen. Und hier geht's zum Publikumsgespräch mit Dirk Laucke.